Die Klage überwinden

Die Klage überwinden

26. Mai 2015 von Sabine Adatepe

Menekşe Toprak, Ağıtın Sonu „Aber sicher ist es möglich, das Leben leicht zu nehmen! Was einem zustößt, kann man auch als neuen Weg auffassen, statt als Katastrophe!“ Fatma (37) hat ihren gutdotierten Job in einer internationalen Firma im Ausland verloren und kommt, ausgestattet mit finanziellen Mitteln für mindestens ein Jahr, nach einer Ewigkeit erstmals wieder in die Türkei. Ein wenig auf Jobsuche, mehr aber auf der Suche nach sich selbst und einer erfüllenden Beziehung. Zunächst sitzt sie allerdings wegen Lodos, dem Istanbuler Fön, auf einer der Inseln fest. Menekşe Topraks zweiter Roman Ağıtın Sonu (Das Ende der Klage) ist, so sagt die Autorin, das Produkt intensiver Auseinandersetzung mit dem Leben und den Beziehungen von Frauen und Männern in Ost und West und in einer Metropole wie Istanbul im Besonderen. Das Anfang 2014 erschienene Buch erhielt Ende April 2015 den Duygu-Asena-Romanpreis „Die Frau hat noch immer keinen Namen“* als „ein Text, der eine in der globalen Ökonomie agierende junge Frau aus der Türkei mit all ihren Kämpfen und Sehnsüchten auf ehrliche Weise schildert und die emotionale Dimension der Protagonistin in Harmonie mit dem gesellschaftlichen Kontext gestaltet“ (Begründung der Jury).

Kerem heißt der Beau, der Fatma bei diesem stürmischen, unfreiwillig verlängerten Aufenthalt gleich zu Beginn auf der Insel vor Istanbul auffällt. Und sie kann ihn nicht vergessen. In den kommenden Tagen und Wochen bezieht sie die Wohnung einer Bekannten; versucht sich den Nachbarschaftsverhältnissen anzupassen und findet in der ersten etwas unheimlichen Nacht in der Wohnung ein Heft mit einer märchenhaften Erzählung, die schon beim ersten Lesen metaphorische Bedeutung für sie gewinnt:

Das Märchen von Mann, Pferd und Frau. Der Mann, eine Art naiver, allseits begehrter, aber noch nicht „wachgeküsster“ Adonis und primitiver Jäger mit Prachtpferd und konventioneller, ehrgeiziger Mutter, wird bald von Frauen aus seinem jeweiligen Paradies vertrieben und nach „ihren“ Vorstellungen umgeformt, dabei verliert er seine Natürlichkeit und Naivität, gibt das Pferd, seinen liebsten und wertvollsten Besitz, auf und hetzt bald nur noch von Nacht zu Nacht bei immer anderen Frauen. Am Ende ist er ein rastloser, unter Leere und unstillbarem Durst leidender Schürzenjäger, der in jedem Frauenherz nur Schmerz und Schrecken hinterlässt.

Gegen Morgen, unter dem Eindruck der Lektüre, vermeint Fatma die Stimme einer alten Frau zu hören, Wortfetzen, Memeds Pferd, ein Klagelied, den Namen des in der Not herbeigerufenen Propheten Hızır. Kindheits- und Jugenderinnerungen steigen auf, die alevitisch-kurdischen Großeltern, der früh ermordete Vater, der nie verwundene Verlust der Mutter, die bald nach dem Tod des Vaters die 8-jährige Tochter verließ, um eine neue Ehe einzugehen, die Zeit im Studentenheim. Fatma trifft alte Freundinnen, hält tagelang am Fähranleger wie zufällig Ausschau nach Kerem. Freundin Bahar arrangiert ein Wiedersehen mit Fatmas Jugendliebe Barış, der möglicherweise einen Job vermitteln könnte. Da trifft sie, so unwahrscheinlich es scheint, auf einer Umwelt-Demo Kerem wieder, sie tauschen Telefonnummern aus. Barış hatte sie vor Jahrzehnten auf einer Gedenk-Kundgebung für das Massaker in Sivas (1993) kennengelernt, das Wiedersehen enttäuscht sie zutiefst, nicht nur zerschlägt sich die Hoffnung auf Berufskontakte, auch seine Haltung Frauen gegenüber entsetzt sie. Seine Ehe beendete er nach nur sechs Monaten, denn wozu heiraten, meint er: (c) SA

“In welchem Zeitalter lebst du denn? Ich hatte geglaubt, du seist mittlerweile eine europäische Frau. Wegen Sex heiratet man doch nicht. (…) Sex findest du immer. Wenn du gut verdienst und eine Frau deine Wohnung sauber hält und zweimal wöchentlich so gut wie deine Mutter kocht, wozu braucht es da noch eine nörgelnde Ehefrau?“ (c) SA

“Du scherzt wohl“, brachte Fatma heraus. „Ich dachte, diese Zeiten sind vorbei. Zumindest in Europa, das du für so freizügig hältst, läuft das längst nicht mehr so. Die Menschen dort suchen nach verlässlichen Beziehungen, nach Beständigkeit auch in der Sexualität, nach Gemeinschaft.“

Barışs eindeutiges Angebot beim Abschied lehnt sie ab. In Kerem dagegen hat sie sich verliebt, doch am „Morgen danach“, enttäuscht von seiner Selbstverliebtheit, seinem Dominanzgehabe, verspürt sie nichts als einen Fluchtimpuls, lässt sich aber „von der Lust übermannen“, bevor sie tatsächlich flüchtet – und sich kurz darauf schon fragt, ob der Frust nicht ihre eigene Schuld sei. Und ihr Frust wächst, als er sich nicht einmal meldet. Sie fühlt sich benutzt, geradezu beschmutzt. Ist denn eine glückliche Mann-Frau-Beziehung unmöglich?

Unwillig lässt Fatma sich nach fast dreißig Jahren auf ein Wiedersehen mit ihrer Mutter ein. Auch wenn sie erkennen muss, dass manches aus der Erinnerung sie trog bzw. eigene Parallelerzählung war, verbindet sie mit dieser Frau nichts, die ihrerseits die verlorene Tochter gern ans Herz drücken würde. Sie bleibt ihr fremd. „Das Schlimmste, was ihre Mutter getan hatte, war vielleicht, sie gefunden und eingeladen zu haben.“ Sie kann nicht verzeihen, dazu kommt der Neid von Halbbruder und Schwägerin auf ihren beruflichen und sozialen Aufstieg. Erst der später hinzukommende jüngere Halbbruder mit seiner Unkonventionalität versöhnt sie halbwegs. „Stell dir vor, du schuftest im denkbar miesesten Job, hast aber dennoch Angst, diesen Job zu verlieren!“, sagt er über seinen Bruder und charakterisiert damit treffend die Lebenshaltung engstirnigen Kleinbürgertums, die Fatma so zuwider ist.

Am Ende trifft Fatma Nevin, der die Wohnung gehört, in der sie wohnt, und spricht sie auf das gefundene Märchen an: „Ich bin dem Jäger aus deinem Märchen begegnet.“ Nevin ihrerseits, vermutlich als Alter Ego der Autorin, formuliert ihre Motivation zum Schreiben: „Was wird denn auf dieser Welt anderes von uns bleiben als die Geschichten, die wir erzählten und in Erinnerung riefen? Ganz davon abgesehen, wie lange die Geschichten sich halten können. In spätestens zehn Jahren gehören wir zu den Alten, die Mühe haben, ihre Umgebung zu verstehen. Vielleicht gehören wir schon jetzt dazu. Denn was wir kennen, verschwindet …“ Nach den fünf Monaten in der Stadt hat Fatma eine neue Stelle gefunden, ihre Abreise steht bevor, die Reise in die eigene Vergangenheit ist beendet. Sie fühlt sich den Erzählungen der Großeltern verbunden, denkt an die Großmutter. „Vielleicht war sie gleich dieser kummervollen Frau vor ihrer eigenen Geschichte davongelaufen, hatte im Stillen gelitten und vor sich hin geklagt, jetzt war es an der Zeit, von der Klage zu erzählen.“

Die Geschichte von Märchen, Vogel und Pest beginnt als Utopie, als Umkehrung des gängigen, obigen Märchens, zugleich ist es ein dystopisches Narrativ von Migration, Remigration und Globalisierung:

„Das Land, in dem jener attraktive Jüngling lebt, ist von Wäldern, Gewässern und Bergen umringt, arm aber reich an Märchen, Erzählungen und weisen Träumen …“ Frauen wie jene, die den Jüngling verführen, gebe es dort kaum und wenn doch, mache man sie ausfindig und sorge dafür, dass den Jünglingen die Augen geöffnet werden. Die Kinder wachsen mit lehrreichen Märchen auf. Einem Halbwaisenmädchen aber enthält der böse Stiefvater die Geschichten vor. Im Land bricht eine Pest aus und stellt bei allen Betroffenen das Verständnis von „gerade und krumm“ auf den Kopf. Mit zwölf bricht das Waisenmädchen auf, um nach dem vorenthaltenen, von der Mutter angedeuteten Märchen zu suchen. Geführt von einem weißen Vogel kommt sie in ein von einem rein naturwissenschaftlich technischen Verständnis von Mensch und Natur beherrschten Land, in dem es keine Märchen gibt. Dort bleibt sie, wächst heran, arbeitet, heiratet, ist glücklich. Doch etwas fehlt. Auf der Suche nach dem alten Märchen – und der Idealgesellschaft der Kindheit – geht sie in ihr altes Land zurück und findet es völlig verändert vor, auch die Märchentradition existiert nicht mehr. „Man hört von einsamen, unglücklichen Frauen, von ständig von Frau zu Frau jagenden unersättlichen Männern, die sich selbst und die Frauen unglücklich machen.“ Sie vermeint noch etwas vom alten Klang und Geruch zu vernehmen, doch eine weise Alte berichtet ihr dann vom Wandel: Ein weißer Vogel sei gekommen und habe seine weißen Federn über alle Häuser verbreitet. „… Das Wissen der Sprache jenes Landes, in das du als Kind gegangen bist, hat sich in unserer Sprache eingenistet. Erst nannte man es Pest, dann brandneues Leben …“ Die alte Sprache geriet in Vergessenheit, wurde nicht mehr verstanden. Infizierte, aber noch an Märchen glaubende unglückliche Menschen tauchten auf, nur in Träumen lebte die Vorstellung der alten glücklichen Menschen fort – und in einigen Vierteln. Dort sieht sie, wie der weiße Vogel von einer unsichtbaren Wand am Hineinkommen gehindert wird, sie aber schlüpft durch eine Tür hinein, wird von einem weißbärtigen Greis in einen vieltürigen Raum geführt – wo sie, als seine Rückkehr gar zu lange auf sich warten lässt, hinter den Türen eine Reihe von Männergestalten antrifft, eine widerwärtiger als die andere. Als sie vom Greis „ihr“ Märchen einfordert, sagt er, er habe es ihr doch erzählt, dies eben seien die Märchen von damals. „Doch welches Märchen auch immer ich dir erzähle, du hörst es vor dem Hintergrund deines Wissens an. Solange du mit diesem Auge schaust, wirst du den gesuchten Jüngling hier nicht finden.“

So endet das Buch mit einer Allegorie auf die Emanzipation der Menschen in der modernen Welt, nennen wir sie „Stadt“, die sie dazu verurteilt, ihr altes Wissen zu vergessen oder nicht mehr zu verstehen Der Mensch kann hinter einmal erworbenes Wissen nicht zurück, verspürt aber bleibend die Sehnsucht danach, i.e. nach dem verlorenen Paradies, das ihm mit dem neuen Wissen aber gar nicht mehr als Paradies erscheinen kann.

Autorin Toprak, die in Berlin und Istanbul lebt, ist selbst eine Wanderin, die sich in mindestens zwei Kulturen bewegt. Sie machte sich vor allem als Kulturjournalistin und als Erzählerin (zwei Erzählbände und diverse verstreut erschienene Erzählungen liegen vor) einen Namen, bevor sie 2011 ihren ersten Roman Temmuz Çocukları (Julikinder) veröffentlichte. Nach sozialrealistischen Erzählungen wolle sie sich nun eher utopisch-dystopischen Texten widmen, sagte Toprak im Interview. Ağıtın Sonu ist ein Schritt in diese Richtung.

Mit Ağıtın Sonu hat sie auch eine Neuerzählung der Allegorie vom Baum der Erkenntnis gewagt, fokussiert auf die Beziehung zwischen den Geschlechtern. Im Subtext finden sich zahlreiche politische Bezüge und aktuelle Diskurse. Ihre Heldin Fatma erlöst sie scheinbar aus dem Dilemma, indem sie sie nach Russland schickt. Wie aber wir LeserInnen, längst alle selbst infiziert von der „Pest der neuen Sprache“, weiterleben und gleichberechtigte, für beide Seiten befriedigende Beziehungen basteln könnten, lässt auch diese kleine Dystopie am Ende notgedrungen offen. Die Autorin hat ihren Part geleistet, hat uns in einer doppelten Erzählung eine Lesart der Gründe für unser Unbehagen im Status Quo der Geschlechterbeziehungen an Hand gegeben. Den Blick nach vorn muss jede/r von uns nun selbst richten.

Liebe Leserin, falls du, beziehungsgefrustet, bei diesem Buch mehrfach zustimmend nicken und es deinem Partner/Ex/in Spe zum Lesen geben solltest, um ihm einen Spiegel vor die Nase zu halten, wundere dich nicht, wenn er es entweder auch toll findet, aber keinerlei Ähnlichkeit mit eigenem Verhalten zu erkennen vermag, oder Fatmas Beziehungsvorstellungen rundheraus als verstaubte Dorfmentalität abtut. Dieses Buch wäre lohnender Gegenstand für eine Studie über Unterschiede weiblicher und männlicher Lesarten, vorausgesetzt, die Probanden wären ehrlich. Dass Ehrlichkeit in dieser Thematik keine Selbstverständlichkeit ist, wissen wir alle aus eigener Erfahrung. Nicht von ungefähr betonte die Jury gerade diesen Punkt bei ihrer Preisvergabe an dieses Buch.

Menekşe Toprak: Ağıtın Sonu (Das Ende der Klage). Istanbul: İletişim 2014. (bisher nur auf Türkisch)

*Duygu Asena stieß 1987 mit ihrem Doku-Roman Die Frau hat keinen Namen die Debatte der modernen weiblichen Emanzipationsgeschichte in der Türkei neu an.

https://angeschwemmt.wordpress.com/2015/05/26/toprak-agitin-sonu/#more-835