“TEMMUZ ÇOCUKLARI” von EVA LACOUR

Zwischen Deutschland und der Heimat

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Temmuz Çocukları

Mit Temmuz Çocukları (Julikinder) hat die junge Istanbuler Schriftstellerin Menekşe Toprak nach zwei Erzählbänden ihren ersten Roman vorgelegt und bewiesen, dass sie dieses Genre ebenso hervorragend meistern kann. Die Geschichte trägt teilweise autobiographische Züge und handelt von einer zwischen zwei Kulturen zerrissenen, anatolischen Migrantenfamilie – typische Schicksale und doch so individuell, dank der einfühlsamen Schilderung der Autorin. Zwei der vier inzwischen erwachsenen Kinder des alternden Paares leben in Deutschland, zwei – die “Julikinder” – in der Türkei, wohin sie als Jugendliche von den Eltern gebracht wurden. “Das heißt, es gab in jeder Klasse, jeder Schule Migrantenkinder, Deutschländer. Seltsam schwärende Wunden … Sommerkinder; eigentlich höchstens Julikinder, die im Sommer darauf warteten, dass ihre Familien kamen; wenn sie aber kamen, änderte sich der Fluss ihres Lebens, alles wurde unterbrochen und für einen Monat erlangten sie die Besonderheit, Eltern zu besitzen, doch die meisten wussten gar nicht wohin mit Vater und Mutter. Waisenkinder mit Vater und Mutter.” (S. 194)

Doch nicht nur die in die Türkei – da lebt und studiert es sich billiger – gebrachten Kinder vermissen ihre in Deutschland verbliebene Familie; die Eltern sind nach einem arbeitsreichen Erwerbsleben in ihrer Einsamkeit und Isolation hin- und hergerissen zwischen dem Wunsch, in ihre frühere Heimat zurückzukehren oder in Köln zu bleiben, und im Endeffekt wissen sie, dass sie weder hier noch dort jemals wieder wirklich zu Hause sein können. “Von Mann zu Mann in der eigenen Sprache grüßen, sprechen, sich also unter die Menschen zu mischen, war alles, was er wollte. Unter die Menschen zu gehen, ist gut und schön, hätte Frau Şükriye am liebsten gesagt, aber er würde doch nach dreißig Jahren bisweilen mit jenen Menschen so wenig teilen, so wenig bzw. viel eben, wie ein Mensch durchlebt.” (S. 55)

Das Geschehen spielt sich parallel in Köln und Ankara ab, und zwar an Silvester. Dieser besondere Tag des Jahres ist für die Personen Anlass für Rückblicke, löst Nachdenken aus. Obwohl der überwiegende Teil des Buches aus Erinnerungen an längst Vergangenes besteht, durchzieht über die Vermischung von Vergangenem und Gegenwärtigem und aufgrund der sich daraus ergebenden Parallelen eine Spannung das Geschehen, die den Leser packt und ihn das Buch kaum mehr aus der Hand legen lässt. “Als wolle er sich auflehnen, begab sich Dursun nach vorne und ging auf das Dynamit zu. Ihm war danach, zu sagen, warte noch einen Moment! Von wie vielen jungen Soldaten hatte er während des Militärdienstes gehört, dass sie bei einer verspäteten Explosion ihr Leben gelassen hatten, als sie gingen, um das Dynamit zu untersuchen. Dursun kannte doch diese Geschichten auch, sie waren doch zusammen beim Militär gewesen, waren Waffen- und Weggefährten geworden. Von hinten betrachtete er dessen massigen, schwerfälligen Körper, der den enormen Hintern nur mit Mühe in Bewegung setzte und wollte sagen, halt, warte noch ein bisschen! Er sagte es nicht. Irgendwie wollte seine Wut nicht verfliegen, die Dursun galt.” (S. 153) Die Katastrophen der Vergangenheit überschatten die Gegenwart. Man versucht, zu vergessen, und erinnert sich doch ständig. Nicht Bewältigtes, nicht zu Ende Gedachtes zieht sich durch das Leben, auf dieser Basis werden Entscheidungen getroffen, die dann nicht mehr rückgängig zu machen sind, auch wenn man – spät – ihre Tragweite erkennt. Die Familie bricht allmählich auseinander und während das alte Jahr noch hoffnungsvoll in Verliebtheiten auszuklingen schien, offenbart der erste Tag des neuen Jahres die ganze Tragik und zeigt, wie tief die einst geschlagenen Wunden waren.

Auf den letzten zehn Seiten unerwartet versöhnlich, endet die Geschichte damit, dass nach dem Suizid der ältesten Tochter Vater, die drei verbliebenen Geschwister und die älteste Enkeltochter wieder zusammen finden. Den Personen gelingt es, sich mit ihrer eigenen persönlichen Geschichte zu versöhnen. “Wenn es ein Paradies gab in der jenseitigen Welt, dann musste es so ein Ort, so ein Moment sein, überkam es ihn. Das Paradies musste so ein Ort sein, an dem der Mensch die ihm bis ins Mark eingedrungenen Gerüche der Kindheit wahrnehmen konnte, wo man einen Moment lang vor Euphorie fast ohnmächtig wurde in jenem Knäuel von Gerüchen.” (S. 243f)

Die Faszination des Romans liegt auch in den Details. Die Weihnachts- und Neujahrszeit in Köln weckt bei der Mutter Kindheitserinnerungen und Assoziationen zum islamischen Opferfest – eine Verbindung, die man so leicht nicht ziehen würde, aber das Zusammenkommen der Familien, die Freude und Aufregung der Kinder sind das beides verbindende Glied. “Ja, was dieser Baum bei den um ihn herum versammelten Familien und Kindern hervorrief, unterschied sich von dem, woran er sie selbst erinnerte. Sie beobachtete die Feierlichkeiten mit dem Duft nach herunter gebrannten Kerzen, Zimt und Mandeln […] aus der Ferne und gab sich dabei der Begeisterung hin, die sie früher einmal selbst erlebt hatte.” (S. 48)

Als sie schlaflos auf den ausgeflogenen Sohn wartet, sich sorgt, tauchen Gedanken an eine kurze Freiheit während ihrer eigenen Jungend auf, damals, als sie alleine, zwei Jahre vor ihrem Mann nach Deutschland gekommen war. “An einem Samstag, als sie mit ihren Zimmergenossinnen zum Einkaufen ging, trug sie zum ersten Mal einen Minirock, der ihre Beine zeigte, und während sie durch die Straßen streiften, begriff sie, wie einfach es war, sorglos zu sein, ohne Verantwortung und sich frei verhalten zu können. Ganz erstaunt war sie darüber. So mitgerissen von der Behaglichkeit, ohne an irgend jemanden zu denken bei schönem Wetter in einem Park Eis zu essen, ganz gemütlich herumzusitzen, beim Gehen nicht ständig gezwungen zu sein, den Blick zu senken, vielleicht auch die Welt mit den Augen der Männer zu sehen, dachte sie, wären da nicht die drei Kinder, die auf sie warteten, könnte sie eintauchen in diese unbekannte Welt, in der es sich als Frau ungeheuer ungezwungen lebt, und verschwinden.” (S. 199)

Temmuz Çocukları ist ein Buch über zwei Kulturen, eines, das Türken genauso wie Deutsche angeht und berührt. Deutschen Lesern kann es zu einem tieferen Verständnis der Migrantenschicksale verhelfen, aber auch türkischen Lesern kann es so manchen Denkanstoß geben, sei es zum Leben in Deutschland oder zum Umgang mit Rückkehrern in die Türkei. So bleibt zu hoffen, dass ein deutschsprachiger Verlag eines Tages eine Übersetzung herausgibt und so auch einen Beitrag zum besseren Verständnis der beiden Völker füreinander leistet. Der begabten Autorin möchte man allen Erfolg wünschen.

 


von Eva Lacour05. Juni 2011