Dejavu / Déjà-vu / Auszug

Déjà-vu
Menekşe Toprak
Roman, Doğan Kitap Verlag – Istanbul, September 2022

Ausgezeichnet mit Stipendium der Berliner Senatsverwaltung für Kultur und Europa für Literatur in nichtdeutscher Sprache 2021.

Ankunft                                  Teil 1                                      
Als sich der Zug unter Getöse und dem Zischen der Kohlebefeuerung der Stadt näherte, schaute die junge Frau im Erste-Klasse-Waggon aus dem Fenster. Bald ließ das Morgenlicht ihr symmetrisches kleines Gesicht fahl erscheinen, bald verschattete es das reglose Antlitz. Sie schaute hinaus, sah aber weder das am Fenster vorüber fließende Grün noch den zwischen den Bäumen hin und wieder aufblitzenden See. Sonst hätte ihr Blick zweifellos den morgendlichen Vögeln am See gegolten, den Enten, die sie unter den Vögeln am besten kannte, den Störchen ihrer sonderbar grazilen Schönheit auf den am Rand des Schilfs eingeschlagenen Pflöcken standen, auf der großen Gänseschar. Hätte überlegt, ob der Raubvogel, der soeben wie der Blitz ins Wasser getaucht und ebenso schnell mit einem Fisch im Schnabel wieder aufgetaucht war, wohl ein Kormoran war. Hätte sich gefragt, ob auch Möwen am See sind, der sich wieder und wieder hinter dem Wald versteckte, hätte unbedingt das glatte Blau mit der Farbe des Bosporus verglichen, mit dem makellosen Spiegel des Marmarameers bei Windstille. Da jeder Vergleich eine Verbindung darstellt, hätte vermutlich Heimweh sie überfallen, noch bevor sie eine nennenswerte Entfernung zurückgelegt hätte.
Sie war in Gedanken versunken, döste aber nicht. Sie hatte sich an die Quälerei des Zuges gewöhnt, der einem atmenden Wesen glich, das stets an dasselbe Hindernis stößt, ins Taumeln gerät, sich aber fängt und unbeirrt seinen Weg fortsetzt: Im Rhythmus der winzigen Stöße der Eisenbahn ruckte ihr Kopf, kaum nach vorn gefallen, jedes Mal wieder zurück, hinderte sie das Buch, wenn es ihr vom Schoß zu rutschen drohte, mit einer Bewegung der Finger zwischen den Seiten am Herunterrutschen.
Der Zug nahm klappernd eine scharfe Kurve, sie schrak hoch. Gedankenversunkenheit mochte ein Zustand zwischen Wachen und Schlafen sein, jetzt aber war sie ganz wach. Das Buch auf dem Schoß hatte sie jetzt fest im Griff, vollauf nahm sie die stechender gewordenen Sonnenstrahlen wahr.
Als sie sich aufsetzte und umschaute, blieb ihr Blick an der Frau und dem Mann auf den Plätzen gegenüber hängen. Die Frau hatte die grauen, in der Mitte gescheitelten Haare zum Knoten geschlungen, die Augen hielt sie auf eine Art geschlossen, als würden sie gleich aufspringen. Stocksteif saß sie da, den Samthut auf dem Schoß, die behandschuhte Hand gleich daneben. Der Mann war blond und viel jünger als sie. Er schien nicht gewusst zu haben, wohin mit seinen langen Beinen, und hatte sie endlich geschlossen nebeneinander gestellt.
Als der Mann sich bewegte, richtete sie den Blick auf ihren Schoß. Bevor sie das Buch zuschlug und auf den Tisch neben sich legte, nestelte sie aus den hinteren Seiten geschwind das Bändchen heraus und platzierte es dort, wo ihre Finger gewesen waren. Mit leichten Püffen glättete sie die Falten erst der Bluse, dann des Rocks, um sich anschließend der Frau an ihrer Seite zuzuwenden.
Saß in diesem Waggon eine Person, die tatsächlich schlief, dann war es zweifellos ihre ältere Schwester Hamiyet. Die Decke war ihr auf die Hüften heruntergerutscht, ihr Gesicht lag zwischen den auf die Lehnen gestützten Armen verborgen. Aus den Haarspangen geschlüpft, fielen ihr ein paar lange Locken elektrisiert über den Nacken auf die Schulter, einige schlängelten sich über den Hals zur Wange hin. Schwarze Haare, ein schlanker Hals und ein makellos weißer Teint, sie erinnerte an einen Schwan. Ja, Schwanenkopf und -hals hatte sie jetzt eingezogen, da sie schwanengleich schlummerte. Leicht aufgelöst und mit der im Nacken über dem Hemdkragen erkennbaren weißen Haut erweckte ihr Anblick den Eindruck von Intimität und Wehrlosigkeit.
Unwillkürlich streckte sie sich hinüber, fasste die Decke an einem Zipfel und zog sie rasch der Schwester bis zu den Schläfen hinauf. Grob und mit geballten Brauen, sie war wütend. Wütend, weil sie die Blicke des Mannes und der Frau auf sich spürte.
Ihr fiel ein, dass die beiden einige Stunden zuvor zugestiegen waren, es musste an der letzten Station gewesen sein. Im Halbschlaf hatte sie mitbekommen, wie sie die Sitzplätze gegenüber eingenommen hatten, beobachtet, wie sie dasaßen und flüsterten, und gedacht, ihre Sprache ähnele keiner ihr bekannten Sprache. Doch bald darauf hatte sie die beiden vergessen. Denn als hätten sie den Schlaf kurz unterbrochen und bei Anfahrt des Zugs einfach weitergeschlafen, hatten sie nach dem kurzen Flüstern die Augen geschlossen und sich ganz still dem Vergessenwerden anheimgestellt. Das Duo, das einander mit den langen, spitzen Gesichtern und länglichen blauen Augen ähnelte, wirkte harmlos, die Frau trotz ihres fortgeschrittenen Alters nachgerade kindlich und wohlmeinend. Wie von selbst wurde ihr Blick weicher und ein kaum wahrnehmbares Lächeln setzte sich auf ihre Lippen.
Behutsam, um die Schlafende nicht zu wecken, grüßten sie einander, ein scheues Guten Morgen. Als die Grauhaarige ein paar Worte zu ihrem Begleiter sprach und nach draußen deutete, drehte auch sie sich zum Fenster.
Sie fuhren über ein ebenes Gelände in die Stadt hinein. Das dichte Grün lösten nun Gebüsche, Freiflächen, Baustellen und allmählich höher werdende Bauten ab, auf einmal war der Schienenstrang dann schon von Häuserreihen gesäumt. Das Morgenlicht überzog die Scheiben mit Goldstaub, verdunkelte die Fenster. Ein Fenster klappte auf, ein Lappen an einer rundlichen Hand erschien, er schüttelte sich in der Luft, Staub flog, verteilte sich, verwischte. Kurz darauf fielen ihr offensichtlich zum Lüften aufgehängte Kissen und Decken ins Auge und eine rothaarige Frau mit recht fleischigen Armen und Doppelkinn. Führe der Zug nicht, würde sie das Bild ausgiebig betrachten und herauszufinden versuchen, was daran sie so anzog. Doch der Zug entführte sie. Puffkissen, wollene Bettdecken, Wolken, eine mütterliche Frau standen ihr vor Augen. Doch das alles waren nur ihre Gedanken, wurde ihr bewusst. Es hatte gar nichts mit der Frau am Fenster zu tun, kam weit aus der Vergangenheit. Frau Holle, dachte sie kurz, da war der Gedanke bereits wieder entschwunden. Denn nun näherten sie sich der Stadtmitte. Silhouetten von Gebäuden, die sie kannte, tauchten auf, die parallel zu den Schienen verlaufende Straße war dichter und dichter bevölkert. Verkehrspolizisten, Pferdewagen, Kutschen, Reiter und Automobile, diese längst in der Überzahl und schneller als alle anderen, reges Treiben. Sie blickte aufmerksam hin und meinte, am Steuer eines Automobils eine Frau gesehen zu haben.
Aufgeregt wandte sie sich zurück ins Abteil, da rief schon Hamiyet neben ihr: „Liebes, Suat, wir sind ja schon da!“
„Wir sind da, meine Liebe, was hast du lange geschlafen!“, schalt sie die Schwester laut und fröhlich. Euphorisch fuhr sie fort: „In München sind wir eingestiegen, da bist du eingeschlafen, und jetzt ist schon Morgen!“
Hamiyet lächelte nur. Sie hatte sich jetzt wieder im Griff und bereits die für Fremde bestimmte distanzierte Miene aufgesetzt. Der Mann und die Frau gegenüber beobachteten, wie sie die Decke auf dem Schoß zusammenlegte und die Jüngere mit einem nachsichtigen Blick bedachte, gleichsam wie eine Mutter. Was sahen sie? Zwei junge Frauen auf der Strecke München-Berlin. Zwei Ausländerinnen. Mit dem hellen Teint und den zarten Nasen womöglich Slawinnen. Aber welche Sprache mochte das sein? Der Mann fand eindeutig die etwas dunklere Ältere attraktiver, fein und zierlich wie sie war, und den Hals, der tatsächlich an den eines Schwans erinnerte. Vielleicht war es auch ihre Ruhe, die ihm gefiel, vielleicht hielt er ihr besonnenes Schweigen für Schönheit.
Kurz darauf beugte der Mann sich vor und erkundigte sich auf Französisch, welche Sprache sie sprächen. Dabei wanderte sein Blick zwischen den beiden Frauen hin und her. Als suchte er in den dunklen, grünen Augen einen Sinn zu ergründen, fügte er hinzu: „Sind Sie Ungarinnen?“
„Wir sprechen Türkisch“, sagte die Ältere.
„Wir kommen aus Istanbul, wir sind Türkinnen!“, ergänzte die Jüngere.
Erst viel später sollte ihr bewusstwerden, wie aufrecht, ja, geradezu herausfordernd sie das gesagt hatte. Rührte die Herausforderung daher, dass ihre Schwester dem Mann gefiel, oder steckte ein anderer Grund dahinter, sollte sie sich dann zudem fragen. Ihr spontanes Gefühl aber war eindeutig. Sie warf den Handschuh hin, weil sie ahnte, dass der Mann diese Antwort nicht erwartet hatte. Ob er wusste, dass der osmanische Staat nicht mehr existierte und das Sultanat abgeschafft war? Dass die Republik ausgerufen worden war und neue Gesetze Frauen und Männer gleichstellten? Ja, dass der Harem lange vor Verkündung der Republik aufgelöst worden war, und dieser Harem ohnehin nicht aus halbnackten koketten Frauen und Konkubinen bestanden hatte, die an opulenten Tafeln tanzten, wie auf den Bildern von Orientalisten?
Der Mann hatte seine Verwunderung allerdings im Nu überwunden.
„Großartig! Ich habe schon viel von Mustafa Kemal Pascha gehört.“
Seine Worte klangen aufrichtig. Ihr fiel ein, wie verärgert sie kurz zuvor gewesen war. Warum hatte sie Hamiyet eben noch zugedeckt, als verhülle sie etwas Ungehöriges? Warum fühlte sie sich nach wie vor in Gegenwart eines fremden Mannes unbehaglich oder aufgerufen, herausfordernd zu reagieren? Dabei hatte sie in Istanbul die Männer, die in ihr Leben traten, stets bezichtigt, allzu „à la turca“ zu sein, hatte selbst als eine der Ersten den Schleier abgelegt, als vor zwei Jahren das Hut-Gesetz herausgekommen war. Sie hatte Fotos machen lassen und in der Illustrierten „Das neue Leben“ geschrieben, die Republik stünde insbesondere der Istanbuler Frau gut zu Gesicht, die moderne Frau habe sich längst gegen die Gefangenschaft in der Finsternis gewehrt und den Tscharschaf aus ihrem Leben verbannt. Das stimmte ja auch. War sie etwa nicht mit offenem Gesichtsschleier durch das Männerspalier den Hang der Bâb-ı Âli-Straße hinaufspaziert und in der Redaktion der Zeitschrift stets aufrecht gegangen mit selbstbewusstem Klappern der Absätze? Und da war sie noch nicht einmal achtzehn gewesen.
Da lief aber der Zug bereits im Anhalter Bahnhof ein, es blieb keine Zeit mehr, weder zum Nachdenken noch zum Diskutieren. Jetzt würden sie eilig die Hüte aufsetzen, die Mäntel überziehen, die Handschuhe überstreifen, sich für die Außenwelt zurechtmachen, und zwar ohne Gedanken daran, dass ein fremder Mann zugegen war. Sie würden aus dem Zug steigen, ihre Wege würden sich trennen, bevor sie Bekanntschaft geschlossen hätten.

Der Zug hielt auf eine Weise als imitierte er die Wesenszüge seines Erfinders. Kaum in der Haltestelle eingelaufen, stieß er einen langen Pfiff aus, wie um ausgiebig Atem zu schöpfen, bevor er vollständig zum Stehen kam. Als der Zug hielt, hielten auch sie inne, deren Leiber sich an Rhythmus und Stottern der Maschine gewöhnt hatten, aufmerksam lauschten sie der Stille, suchten naturgemäß nach dem Gewohnten, um gleich darauf in Betriebsamkeit auszubrechen.
Das Köfferchen in der einen, die Handtasche in der anderen Hand machte Suat sich bereit, mit der Schwester gemeinsam das Abteil zu verlassen, linste aber zugleich nach der Miene der grauhaarigen Dame. Doch ihr Gesicht blieb unter ihrem Glockenhut verborgen. Den Fédora in der Hand stand der Mann nahezu gebückt daneben. Die beiden Schwestern vorbeizulassen bereitete seiner wuchtigen Gestalt offenbar Mühe. Auf seine Stirn über den kräftigen Brauen traten Schweißtropfen, die wie Furchen anmuteten.
Als Suat auf den Gang hinaustrat, fiel ihr der Ehemann ein, von dem sie gerade einmal seit einem Monat geschieden war. Beim Besteigen des Orient-Express im Bahnhof Sirkeci hatte sie ständig an ihn und die gescheiterte Ehe denken müssen, doch je weiter sie sich von Istanbul entfernte, verblassten ihre Gedanken ebenso wie die Gesichter der Zurückgelassenen. Wie hätte sie eine Beziehung fortsetzen können, wenn die Leidenschaft erloschen war und sie sich in der Liebe getäuscht hatte, wie hätte sie einen Ehemann ertragen sollen, von dem sie wusste, dass sie ihn nicht mehr liebte? Wochenlang hatte sie ihm die Unmöglichkeit ihrer Ehe vor Augen geführt und ihn zu überzeugen gesucht. Als es ihr endlich gelang und sie den Scheidungsbrief von ihm erhielt, staunte sie, wie einfach es letztlich war, und war zugleich wütend darüber. Es war nicht Wut allein, was sie empfand, es war auch das Gefühl der Niederlage. Darüber, dass die Entscheidungen über das Leben einer Frau, von der wichtigsten bis zur winzigsten, von den Worten eines Mannes abhingen.
Sie mochte nicht länger darüber nachdenken, seufzte gequält, warf einen Blick auf die Schwester hinter sich, die verträumt vor sich hinblickte, wendete sich wieder um und schaute durchs offene Fenster auf den Bahnsteig hinaus. Auf einmal fühlte sie sich erleichtert. Durch das Fenster drang das Bahnhofsgebrause herein und eine schrille Stimme, die es übertönte. Ihre Augen huschten über die Röcke, Hosen, Mützen, Hüte und Leiber der Passanten und machten schließlich den Besitzer der Stimme ausfindig. Ein Zeitungsjunge, er rief die Vossische Zeitung aus.
Sie stiegen aus. Hamiyet hielt die Gepäckbillets in der Hand, die ihnen beim Umstieg in München ausgehändigt worden waren. „Wir müssen die Koffer holen, Suat!“ Doch Suats Ohren waren bei dem Zeitungsjungen, der, wie sie vermutete, rief: „Neueste Nachrichten! Neueste Nachrichten!“ Während Hamiyet zwei Gepäckträger heranwinkte, wandte sie sich dem Zeitungsjungen zu.
Als der Junge kurz darauf mit dem Bündel Zeitungen, unter dem er beinahe verschwand, vor ihr stand, erschrak Suat. Sie wusste nicht, wie sie den Jungen anreden sollte, ihr wurde klar, dass sie kein Wort Deutsch herausbringen würde. Doch ihr Gegenüber war ein geborener Verkäufer, aufgeweckt, mit quicklebendigem Blick. Sein von Sommersprossen übersätes Gesicht unter der Schirmmütze spiegelte den Ausdruck eines reifen, erwachsenen Mannes. Ohne Gruß hatte er der zierlichen Frau mit den grünen Augen bereits eine Zeitung in die beige behandschuhten Finger gedrückt.
„Fünfzehn Pfennige, gnädige Frau!“
Sie stellte das Leichtgepäck ab, kramte in der Handtasche nach Münzen, rieselte sie dem Jungen in die Hand, schlug das Blatt auf, ohne noch auf das Wechselgeld zu warten, bemerkte nicht einmal den Dank des Jungen. Rasch sprang ihr Blick von Überschrift zu Überschrift, beim Lesen übersetzte sie sogleich. Weltwirtschaftskonferenz in Genf … Auch Moskau nach Genf geladen … London stimmt China zu … Kampf gegen Mechanisierung unabdingbar … Tauentzienstraßen-Dieb gefasst … Doktor Oetkers Puddingpulver …
Auf Seite sieben hielt sie inne. „Brief aus Istanbul“ stand über der Seite, ihr fiel zuerst die Schwarzweißfotografie ins Auge. Sie. Wie jung sie auf dieser vor drei Jahren im Studio Kirkor in Istanbul angefertigten Aufnahme wirkte! Und obwohl ihr das Foto gar nicht gefallen hatte, als sie es damals zum ersten Mal gesehen hatte, fand sie ihr Gesicht jetzt schön.
„Die Gotteslästerer“, las sie über dem Namen Dr. Wilhelm Feldmann, „Die auch in Deutschland bekannte Schriftstellerin Suad Derwisch Hanum ist wegen Gotteslästerung verurteilt worden.“
Sie faltete die Zeitung zusammen und klemmte sie unter den Arm. Als sie den Kopf hob, traf sie den Blick zweier Personen. „Ob die mich erkannt haben?“, fragte sie sich. „Ach woher denn, ich übertreibe. Hielten sie das Mädchen auf dem winzigen Bild in Schwarzweiß neben die von der Reise erschöpfte Frau mit den geschwollenen Gelenken, würden sie unmöglich eine Ähnlichkeit feststellen.“ Dann aber war ihr, als würde sie tatsächlich von einem Augenpaar beobachtet, und hatte da nicht sogar jemand ihren Namen gerufen?
Die Stimme näherte sich. Und schon stand ihr ein schmächtiger junger Mann mit Nickelbrille und einem großen Holzkoffer gegenüber, der die Hand zum Gruß erhob. Daneben befand sich ein etwas kräftigerer Herr mit dichtem gewelltem Haar. Auch dieser blickte sie lächelnd an.
Der Schmächtige ergriff schüchtern das Wort: „Verzeihung, Sie sind doch Suat Derviş, nicht wahr? Wenn ich mich nicht irre, saßen wir im gleichen Zug. Wir sind uns ein paarmal im Speisewagen begegnet. Ich war mir nicht ganz sicher, ob Sie es wirklich sind,“ dann deutete er auf den Mann neben sich und fuhr fort: „Aber jetzt, nachdem mich Reşat Fuat darin bestärkt hat, bin ich überzeugt davon, dass Sie es sind.“
Dieser Reşat Fuat kam ihr bekannt vor. Als sie ihm die Hand reichte, fiel es ihr wieder ein. War das nicht der Vorsitzende des türkischen Studentenvereins in Berlin? Mit seinen großen Augen, dem warmherzigen Blick und seiner Schweigsamkeit entsprach dieser von der Reise erschöpfte, leicht unrasierte Reşat Fuat annähernd ihrer Erinnerung. Aus dem jungen Mann mit der Brille – „Sabahattin Ali, meine Wenigkeit“ wie er sich vorgestellt hatte -, brachen die Worte hastig hervor, offensichtlich angetrieben von extremer Schüchternheit: „Vor zwei Tagen saß ich im Speisewagen des Express‘ und las gerade in der Zeitung über das Gerichtsverfahren gegen Sie, da entdeckte ich Sie dort wie Sie ihr Essen einnahmen. Ihre einmonatige Gefängnisstrafe wurde ja ausgesetzt. Ich hätte Ihnen gerne meine Wertschätzung ausgedrückt und Ihnen gratuliert, aber ich wollte Sie nicht stören. Was für ein Zufall, Sie hier zu treffen.“
„Sehr erfreut! Und Sie sind Student, Sabahattin Ali?“ „Das ist richtig, gnädige Frau. Ich bin das erstmal in Berlin. Sie studieren ja Musik, nicht wahr?“
Nein, nicht Musik, wollte Suat erst berichtigen, meinte dann aber nur: „Und Sie beide sind also gemeinsam aus Istanbul angereist. Aber wie kann es sein, dass ich Sie übersehen habe. Mir scheint nämlich, Reşat Fuat und ich kennen uns bereits.“
Reşat Fuat führte seine Hand an den Hut, nickte dezent zur Bestätigung und warf ein: „Ich bin erst in München zugestiegen.“
Sabahattin Ali fuhr fort. „Reşat Fuat ist studierter Chemiker. Ich wünschte, mir würde eines Tages so ein Erfolg zuteil wie Ihnen.“
Reşat Fuat betrachtete die zierliche Frau aufmerksam mit zusammengekniffenen Augen und fragte: „Gegen Sie wurde Anklage erhoben, tatsächlich? Aber Suat Hanım, was könnten Sie sich zuschulden haben kommen lassen?” Er runzelte die Stirn und machte ein staunendes Gesicht. In seiner Art lag etwas Feinfühliges, Freundschaftliches. Suat hob ratlos die Arme, was sollte sie sagen, wie das alles erklären. Sie ließ ihre Blicke flüchtig zwischen den beiden Männern hin und her wandern und lächelte verlegen. Da sprang ihr der junge Student bei.
„In einer ihrer Erzählungen lässt Suat Hanım eine Frau, die verzweifelt ist und mit Selbstmordgedanken ringt, sagen, diejenigen, die Allah beten seien nichts weiter als Egoisten, denen es nur um ihr eigenes Heil gehe.“
Suat nickte bestätigend, holte tief Luft und setzte gerade zum Gespräch mit Sabahattin Ali an, vergaß aber sogleich wieder, was sie sagen hatte wollen, weil sie hörte, wie ihre Schwester nach ihr rief. Hamiyet stand weiter vorne bei den Gepäckwaggons, blickte sich offensichtlich suchend nach ihr um und schien panische Angst auszustehen, weil sie sie nicht entdecken konnte. Suat bedeutete den beiden Herren, nun gehen zu müssen, woraufhin Sabahattin Ali sich bedauernd verbeugte, während Reşat Fuat sich lediglich mit einem stillen Lächeln verabschiedete.

Strahlend ging Suat auf Hamiyet zu, die zwei Trägern mit all ihrem Gepäck folgte und tadelnd den Kopf schüttelte, als hätte sie ein kleines Mädchen vor sich. Doch Suat lächelte weiter unverdrossen wie ein Kind, das sich keiner Schuld bewusst ist.

Gleich darauf, als die beiden hinter den Trägern die Treppen hinabstiegen, berichtete sie Hamiyet von den zwei jungen Männern. Dann fiel ihr die Zeitung wieder ein, die sie immer noch unter dem Arm hatte, und sie beeilte sich zu erzählen, ihr Freund, der Journalist Friedmann aus Istanbul habe Wort gehalten und den Artikel, den er über sie hatte schreiben wollen, genau heute herausgebracht. Hamiyet wirkte erschöpft, und Suat war nicht sicher, ob ihre Schwester sie im lärmenden Getriebe auf dem Bahnhof überhaupt verstanden hatte. Es war ihr gleichgültig. Sie erwartete keine Reaktion. Sie beobachtete die Menschen, es waren in erster Linie die Frauen, die ihr besonders auffielen. Die Mode hatte sich geändert, die Röcke waren kürzer geworden, ebenso die Frisuren unter den Cloche-Hüten. Die Frauen hatten es so eilig wie die Männer. Jede hatte eine Tasche dabei und strebte gezielt irgendwohin. Verglichen mit ein paar Monaten zuvor gab es weniger Bettler, weniger Kriegsinvalide. Stattdessen sah man jetzt allerorten Jugendliche in khakifarbener Uniform, die an die Pfadfinderkluft erinnerte. Am Ärmel eine rote Binde mit Hakenkreuz.

Während Suat die Menschen betrachtete, feierte sie insgeheim ihren Triumph. Freudestrahlend und voller Zuversicht trug sie die Zeitung fest unter den Arm geklemmt, als wäre sie nicht dieselbe Person, die noch vor einer halben Stunde verzweifelt und am Boden zerstört auf die Welt geblickt hatte. Beim Einsteigen ins Taxi, das sie zum Hotel bringen sollte, war ihr wieder so, als ruhten Blicke auf ihr. Als sich der Wagen in Bewegung setzte, wandte sie den Kopf um und sah vor einem privaten Automobil Reşat Fuat stehen.

 

 

Berlin 2019                                   Teil 2

Ich erinnere mich noch, wie ich hier ankam. Es war Nacht, und sehr warm, so warm, als wäre ich nicht in einer herbstlichen Stadt Mitteleuropas, sondern in einem hochsommerlichen Land des Südens. Als ich mit meinen schweren Koffern, in Jeans und Wolljacke in der Pension eintraf, war ich durch und durch nassgeschwitzt, und in gleichem Maße erschüttert. Und das lag nicht allein an dieser gnadenlosen Hitze. Schon auf den ersten Blick war zu erkennen, dass es sich bei der Unterkunft, die ich über das Internet gebucht hatte, um ein Stundenhotel, eine Art Bordell handelte. Prostitution hatte ich in Filmen gesehen, und hautnah zumeist auf meinem Nachhauseweg von Taksim mitbekommen, wo Frauen, darunter viele Transvestiten, in den dunklen Ecken von Elmadağ auf Kunden warteten und mit ihnen feilschten. In dieser Pension nun begegnete mir das Gewerbe in all seinen Klischees: Zwei zwielichtige Typen mit nach hinten gekämmtem, gegeltem Haar, und zwei Frauen in glitzernden Miniröcken tranken an der Bar neben der Rezeption Alkohol, musterten mich, unter Beteiligung des Rezeptionisten, so als taxierten sie meine weiblichen Qualitäten, dabei unterhielten sich miteinander, vermutlich auf Russisch, und lachten. Wäre ich eine Künstlerin, die aus solch kuriosen Begegnungen Inspiration zu schöpfen wüsste, hätte ich all das in dieser mir neuen, für so Allerhand berühmten und aufgeschossenen Stadt, die ich aber nicht zuallererst mit Prostitution assoziiert hätte, bestimmt unter dem Kapitel „Lebenserfahrung“ verbucht.

Ich jedoch entschied mich dafür, meine Brille von eineinhalb Dioptrien aus der Tasche zu ziehen und sie mir zum Schutz auf die Nase zu setzen, mich also sozusagen dahinter zu verstecken. Dabei ging mir eigentlich ein Satz im Kopf um, den mir mal jemand direkt ins Gesicht gesagt hatte, und über den wir viel diskutiert und gelacht hatten: „Du bist jung, du hast eine Vagina, also kein Grund, dir Sorgen zu machen!“ Der Vorfall war zwar schon sehr lange her, und Vorfall ist eigentlich schon zu viel gesagt, aber er ließ uns eine ganze Weile nicht mehr los. Mit uns meine ich mich und Serap, eine frühere gute Freundin von mir. Serap war Mathematiklehrerin, wir arbeiteten am gleichen Nachhilfeinstitut, und als man damals das Institut schloss, wurden wir arbeitslos; wenigstens Serap hatte kaum eine Woche später wieder eine Stelle als Lehrkraft in einer Privatschule. Irgendwann saßen wir mal zusammen in einer Kneipe in Beyoğlu. Ich trank, und während ich so vor mich hin trank, brachte ich nach und nach meinen ganzen Frust auf den Tisch. Ich war erst sechsundzwanzig, aber sowohl in Sachen Liebe, als auch in beruflicher Hinsicht steckte ich in einer Sackgasse. Beim Thema Männer hatte ich, wie stets, einen Fehlgriff getan, ich geriet immerzu an den Falschen, ließ es zu viel nah an mich heran, aber ärgerte mich deswegen auch sehr über mich selbst. Sogar meine Mutter hatte mich schon vor ein paar Jahren im Stich gelassen, dadurch, dass sie zu meiner jüngeren Schwester zog. Wer weiß, beim wievielten Bier ich gerade war, stockbesoffen jedenfalls, da hatte ich schließlich all meinen Kummer beisammen und heulte los. Das war noch zu den Zeiten, als sich in Beyoğlu die Leute auf die Füße traten. Wir saßen im Freien, viel Lärm, viel Gedränge. Da beugte sich eine Frau in ziemlich fortgeschrittenem Alter urplötzlich aus der Menge über unseren Tisch, fragte, warum ich weinte, und Serap erklärte ihr, dass ich meine Arbeit verloren hatte. Ich war baff, was die Frau daraufhin von sich gab: „Das ist doch kein Grund zum Weinen? Mach dir keine Sorgen, du bist jung, du hast eine Vagina!“

Habe ich damals gelacht? Vielleicht, vielleicht auch nicht. Aber dieser Ausspruch schlug so bei uns ein, dass er uns noch tagelang beschäftigte. Wenn ich so im Nachhinein daran denke, war es nicht nur dieser Satz, der uns nicht mehr losließ, es war auch die Frau selbst, die wie ein Traum, wie ein Spuk unvermittelt vor uns aufgetaucht und wieder verschwunden war. Es war, soweit ich mich erinnere, eine ziemlich alte Frau mit Kurzhaarfrisur, beigefarbener Bluse, Schal und verrunzeltem Hals, so gepflegt und schlicht, wie ich mir eine Akademikerin vorstellte. Meine Freundin behauptete, sie sei eine Künstlerin, sogar eine in Bedeutungslosigkeit versunkene Yeşilcam-Schauspielerin. Dann änderten wir unsere Meinung und sie war nichts weiter als eine weise Frau. Und das, was sie gesagt hatte, war ironisch gemeint, um uns die Macht von Weiblichkeit und Jugend zu verdeutlichen. Vielleicht war sie sogar eine Dichterin. Später, warum weiß ich nicht mehr, überlegten wir es uns wieder anders und machten sie zu einem alten Transsexuellen, der gar keine Vagina besitzen konnte, dann zu einer Nymphomanin, die ihre Begierden nicht wie gewollt ausleben konnte, und schließlich war sie eine ehemalige Lebedame, die wusste, wie aus dem Körper Kapital zu schlagen war. Damals, als ich meinen Hochschulabschluss in der Tasche hatte, wollte ich die Romane aus osmanischer Zeit bis hin zum zeitgenössischen türkischen Roman nach dem Auftreten von Prostituierten durchsuchen und spielte sogar mit dem Gedanken, zu diesem Thema zu promovieren. Serap, für die sich die Literatur nur aus Bestsellerlisten und Weltklassikern zusammensetzte, fragte: „Tauchen denn da so viele davon auf?“, und ich zählte ihr einen ganzen Schwung von Huren aus türkischen Romanen auf.

Aber sie pickte sich gleich wieder die bekannteste aus meiner Aufzählung heraus und empörte sich: „Also, die Maria Puder aus Sabahattin Alis Die Madonna im Pelzmantel habe ich nie als leichtes Mädchen begriffen“. Die phosphoreszierende Cevriye hatte sie nicht gelesen, aber den Film gesehen; und das Mädchen im Film war ihrer Meinung mit Sicherheit kein Flittchen.

Das war auch egal. Ich war ohnehin nicht mutig genug, mich in meiner Doktorarbeit mit Huren in der Literatur zu befassen. Wer wäre schon so abgebrüht, sich mir nichts dir nichts in diesen Sumpf zu begeben? Ich verbrachte mehrere Wochen mit dem Thema, hatte mich sogar schon für den Titel Kurtisanen als Romanheldinnen in den frühen Jahren der Republik entschieden, am Ende aber beschlossen, statt über Frauen, die mit Sexarbeit ihr Geld verdienten, über Autorinnen zu forschen, die Romane über solche Frauen schrieben. Manchmal denke ich mir, diese geheimnisvolle Alte, die damals an unseren Tisch kam und uns diesen überwältigenden Satz zuraunte, war wohl auch einer der Gründe für meine Entscheidung, hierherzukommen. Und es stimmt ja auch, hätte uns diese Frau nicht so gefesselt, hätte ich mich bestimmt nicht mit dem Thema „Prostituierte im türkischen Roman“ befasst und wäre nie den Spuren einer Frau bis nach Berlin gefolgt, die sich vor hundert Jahren in einer Stadt wie dieser mit dem Schreiben über Wasser halten und es wagen konnte, in die Welt der Prostituierten einzudringen und von ihnen zu erzählen. Und wie das Schicksal so spielt: Gleich am Tag meiner Ankunft in der Stadt, komme ich als erstes in ein derartiges Etablissement. Hier, in dieser Unterkunft, für die ich wegen des geringen Preises mit meiner Kreditkarte gleich eine Woche im Voraus bezahlt hatte, war ich möglicherweise mitten unter die Mafia geraten.

Jetzt, während ich mir am Computer meine gesammelten Unterlagen und Fotos ansehe, zwischen drei verschiedenen Word-Dateien hin- und herspringe und mir Wörter und Sätze notiere, denke ich wieder an die ersten Tage im Zimmer jenes Hotels zurück. Wie schrecklich unglücklich ich damals war. Wegen der Männer, die mir im Leben übel mitgespielt hatten – ohne je echter Bestandteil meines Lebens gewesen zu sein – meiner Mutter, die mir mit ihrer Kaltherzigkeit eine schwere Kindheit bereitet hatte, und die ich für mein gestörtes Urvertrauen verantwortlich machte, und weil mein Vater viel zu früh gestorben war. Aber am meisten, weil ich so einsam war. Dann musste ich plötzlich wieder an diesen Orhan denken, und die Erinnerung an seine wiederholten Zurückweisungen sprengte mir fast das Gehirn, dabei war ich mit ihm nur ein paar Monate zusammen gewesen, aber dadurch, dass er immer mal wieder auf- und dann wieder abtauchte, machte er mir noch jahrelang quälend bewusst, wie sehr er mir fehlte. Aber solche Gefühle lagen mir fern, als ich nach Berlin kam. Ich wäre gar nicht auf die Idee gekommen, dass ich mich hier einsam fühlen könnte. Ich kannte die Akademiker, die aus politischen Gründen ihre Posten verloren und sich hier niedergelassen hatten, allerdings nur dem Namen nach, nicht persönlich. Und den Kontakt zu meinem eigentlich einzigen Freund in der Stadt, Kenan, kann man auch als vernachlässigbar bezeichnen. Er hatte mit mir an der gleichen Fakultät studiert, sich dann aber irgendwann entschlossen zu seiner Mutter nach Berlin zu ziehen, um sein Studium dort fortzusetzen. Kenans Biographie folgt nicht dem allgemein üblichen Verlauf, das Heute und das Morgen passieren bei ihm irgendwie gleichzeitig. Er ist Student, Vater und Berufstätiger in einem. Immer noch studiert er Turkologie, arbeitet in Teilzeit und kümmert sich um seine zweijährige Tochter. Einmal verabredeten wir uns. Kenan, der bei unserem Treffen seine schlafende Tochter im Tragetuch dabeihatte, wirkte müde, aber auch glücklich mit seiner Tochter. Oder ich empfand diesen Zustand, in dem er allem ein wenig fern schien, seinem Kind aber ganz nah, nur als Glück und hielt seine geistige Abwesenheit nur fälschlicherweise für Müdigkeit. Ich würde sagen, es war so eine Art von Abwesenheit, die andere irritiert, sie auf Abstand gehen lässt, aber… Nein. Zwischendurch zeigte Kenan durchaus Interesse. Als ich ihm nämlich erzählte, in den Archiven der hiesigen Zeitungen noch nicht auf den Namen Suat Derviş gestoßen zu sein, war er auf einen Schlag wieder hellwach und begann, mir Fragen zum Thema zu stellen. Kenan, der für den Schriftsteller Peyami Safa schwärmte, mit dessen Tendenz zu Hitler jedoch ein Problem hatte, der Ahmet Hamdi Tanpınars Romane, besonders Das Uhrenstellinstitut in den Himmel hob, hatte von einer weiblichen Schriftstellerin namens Suat Derviş, die deren Zeitgenossin war, und die damals viel mehr von sich reden machte als ihre männlichen Kollegen, noch keine einzige Zeile gelesen, und ganz offensichtlich deshalb leuchtete es ihm ein, dass meine Nachforschungen nach ihr ergebnislos geblieben waren.

Wer findet nicht gern einen guten Grund für seine Wissenslücke? In der Tat hatte Kenan eine grundlegende Lethargie an sich. Es wirkte, als habe er seinen vor Jahren noch teilnahmsvollen, ehemals neugierigen Blick auf alles, was ihn umgab, abgewendet und nur noch auf seine Tochter gerichtet.

Oder setzte es mir so zu, dass ich den früher so aufrichtigen freundschaftlichen Blick meines ehemaligen Kommilitonen nicht mehr entdecken konnte? Mag sein. Vielleicht aber liegt mein Problem auch darin, dass ich kaum Kontakt zu anderen Menschen habe? Aber dieses Gefühl von Einsamkeit hatte ich nur vorübergehend. Ich war ja beschäftigt, verfolgte ein Ziel. Ich hatte eine ganze Bibliothek auf dem Rechner, die man wirklich nicht als klein bezeichnen kann, und mit meinem Deutsch, mit dem ich in der Schule angefangen, und in Kursen an der Uni ausgebaut hatte und jetzt durch beständiges Lesen immer besser verstand, konnte ich zufrieden sein.

Als es nach dem heißen Sommer und Herbst kalt wurde, zog ich in zwei möblierte Zimmer. Meine Güte, war es schwer gewesen, in der Motzstraße etwas Freies zu finden. Nur für einen Monat. Ich wollte mich in diesem einen Monat auf die Spuren der Schriftstellerinnen begeben, die hier einst gelebt hatten. Aus der Staatsbibliothek, wo ich täglich vorbeischaute, entlieh ich mir Nabokovs Maschenka und Irmgard Keuns Das kunstseidene Mädchen in türkischer Übersetzung, und in Istanbul hatte ich in einem Antiquariat die Gedichte von Else Lasker-Schüler gefunden und mit hierhergebracht. Dieses Buch in der Hand, passierte ich jeden Tag das Hotel, in dem diese jüdische Autorin aus begütertem Elternhaus wohnte.

Wie sonderbar, ich bin noch keinen Monat aus dieser Straße fortgezogen; aber als ich vor ein paar Tagen wieder einmal dort vorbeikam, ertappte ich mich dabei, wie ich auf Spurensuche nach mir selbst war. Vielleicht schreibe ich jeder Straße, in der ich wohne, ein wenig von meiner eigenen Geschichte ein. Wer weiß? Aber spielt das irgendeine Rolle? Ich gehe fest davon aus, wieder in mein Leben in Istanbul zurückzukehren – was ich fühle, tut da nichts zur Sache. So war es auch, als ich damals in diesem Hotelzimmer tagelang heulte. Ich sagte mir: „Du bist aus einem ganz bestimmten Grund hier, jetzt ziehst du das durch, dann gehst du wieder zurück!“

Und dabei bleibe ich. Es hat sich ja nichts geändert. Nur dass mir die Fachschaftssekretärin freundlicherweise in einer Mail gewisse Andeutungen gemacht hat, und als ich sie dann anrief, verriet sie mir unter der Hand noch mehr: Der Dekan hatte von ihr wissen wollen, wie lange mein Stipendium noch laufe und wann mein unbezahlter Urlaub vorbei sei. Eigentlich war mir schon klar, dass da etwas im Busch war. Irgendetwas, das sie mir nicht so klar und konkret sagen konnte. Das Schlimme an der Sache: Jetzt bin ich schon zwei Monate hier, verbringe einen Großteil meines Tages in der Staatsbibliothek, der bestausgestatteten Bibliothek der Welt, in der sich fast jedes türkische Buch auftreiben lässt, aber außer dem, was jeder andere auch im Internet finden kann, habe ich nichts in der Hand. Das digitale Archiv ist ein Ozean, und dann gibt es da noch einen nicht digitalisierten Teil. Vielleicht erschließt sich mir Suat Derviş‘ Leben hier in Berlin am besten, wenn ich diese noch nicht digitalisierten Bestände durchstöbere. Doch dafür muss ich mir erst über die Chronologie im Klaren werden. Wann ist sie genau hier eingetroffen, wo und wann erschien ihr erster Text? Und vor allem, ist der Roman, den sie in ihren Memoiren erwähnt, tatsächlich hier als Fortsetzungsroman in der Zeitung erschienen? Oder habe ich es mit dem Ego einer Autorin zu tun, die sich beim Schreiben größer macht, als sie ist, und mit der Stimme einer Frau, die versucht, sich in der Welt der Männer zu beweisen?

Drei Monate habe ich mindestens noch, wenn ich mir ein Attest beschaffe, vier. Aber reicht die Zeit, um noch etwas Substantielles zu finden. Bin ich fähig, eine Frau des vorigen Jahrhunderts zu erfassen, immer berücksichtigend, dass sie eine Osmanin war und im Haus eines Paschas aufwuchs? Bin ich überhaupt in der Lage, mir vorzustellen, wie eine Frau aus einer komplett anderen Epoche und Gesellschaftsschicht durch die Straßen geht, nachzuvollziehen, wonach sie sucht, mit welchen Problemen sie zu kämpfen hat? Aber ich weiß auch sehr gut, dass es mir nur möglich sein wird, mit ihrer Geschichte in dieser Stadt fortzufahren, indem ich meine Phantasie spielen lasse, mir ausmale, wie sie hier eintrifft, welchen Menschen sie begegnet, und wie sie gerade jetzt in einem Pensionszimmer in der Motzstraße erwacht…

 

 

Erwachen                                      Teil 3

 

In der Motz war es laut. Die Straßenschlucht hallte wider vom Hämmern auf den Baustellen, dem Quietschen der Pferdebahn und den Tritten der Hufe. Das Wiehern und Geklapper verschmolz mit dem Kreischen der Möwen. Suat spähte durch die nur halbgeöffneten Lider und suchte nach dem Licht, das ihr vertraut war. Nach dem Meer, das mit zunehmender Helligkeit immer klarer wird. Ihre Gedanken wanderten zum Meeresleuchten, das erst auftreten kann, sobald das Licht fort ist, dann dachte sie an die Dunstschwaden, und schließlich an Nebelschleier. Immer schon hatte sie sich gefragt, wie es möglich war, dass dieses ohnehin so geheimnisvolle Meer unter Nebelschwaden noch geheimnisvoller wirkte? Dieser Nebel sammelt sich manchmal über den Inseln im Marmarameer, verharrt dort stundenlang und verschluckt mit seinem Weiß alles Sichtbare. Irgendwann kommt dann Wind auf und vertreibt dieses blindmachende Weiß. Gelegentlich flog eine Möwe vorbei, ganz nah, riesengroß, einer ihrer Flügel berührte die Fensterscheibe ihrer Zimmer, der andere Flügel reichte hinüber bis zu den Inseln weiter hinten. Oft beobachtete sie den ganzen Tag lang die aus der Ferne winzig klein aussehenden Fischerboote, die Gondeln, mit denen sie als Kinder häufig fuhren, die von weither kommenden und vorüber ziehenden Frachter. Nachts war jedes dieser Schiffe ein blinkendes Licht im Nichts dieser schwarzen Wasser; und der Wind brauste unheilvoll. Wenn dann nach dem Abendessen bei frisch gerösteten Kichererbsen und gebackenen Kartoffeln aus dem Kachelofen noch Geschichten von lodernd flammenden Dämonen, wiederauferstandenen Seelen und Dschinn erzählt wurden, die es auf kleine Mädchen und junge Damen abgesehen haben, war das Brausen des Windes von Schreckensrufen begleitet. Die noch ganz, ganz kleine Suat schlich sich dann angsterfüllt auf Zehenspitzen zum Bett ihrer gerade mal vier Jahre älteren Schwester hinüber, kroch schnell unter ihre Decke und schmiegte sich an ihren warmen Körper. Sobald ihre Hand in der Hand der Schwester ruhte, verhallten all die Geräusche wieder.

Das minderte auch das Sehnen nach der Mutter ein wenig; nach der in diesem Haus geborenen und aufgewachsenen Mutter, die sie vergötterten, nach der sie sich verzehrten, die aber immer unnahbar war; diese schöne Frau, die dem Begehren der Kinder nach liebevoller Zuwendung mit Kopfschmerzen begegnete. Die überschwängliche Liebe des Vaters sollte vielleicht die von der Mutter gewahrte Distanz ein wenig ausgleichen. Aber für diese Liebe gab es noch einen ganz anderen Grund: Jener Doktor İsmail Derviş war Spezialist für Geburtshilfe, und hatte als solcher seinen Kindern auf der ersten schwierigen Reise in diese Welt zur Seite gestanden. Was für ein Glück. Welches osmanische Kind wurde schon in die Hände des Vaters hineingeboren? Und wieviele muslimische Kinder taten überhaupt ihren ersten Schrei in diesem Universum im Arm eines Arztes damals?

Die offiziell als Saadet Hatice eingetragene Suat schlug nun im Halbdunkel eines Zimmers in der Motzstraße ihre Augen auf und wie sie so über ihr Leben nachdachte, meinte sie für einen Moment, sich noch an diesen ersten Schrei erinnern zu können. War das möglich, ist der Mensch in der Lage, sich an seine Geburt zu erinnern? Daran, wie er aus einem finsteren Durchlass in diese Welt hineingeworfen wird, an dieses beängstigende Gequetscht werden, an sein erstes Entsetzen, seinen ersten Schmerz? Doch musste nicht die Mutter den größten Schmerz erleiden, und war das vielleicht der Grund für die Unnahbarkeit der Mutter?

Aber da waren noch Kindermädchen, die Amme, Dienerinnen und die große Schwester. Ganz unten im Haus roch es immer so gut aus dem Vorratsraum gleich neben dem Ofen. Nach Orangen und Äpfeln, die dort für den Winter eingelagert waren… In den Duft der Orangen mischte sich Kaffeegeruch. Diese Gerüche waren mit der Erinnerung an einen ganz bestimmten Moment verknüpft, den sie nie vergessen würde. Wie alt war sie da gewesen? Vier Jahre, oder fünf? Es ist der Garten des Harems. Außer ihr ist niemand da. Sie hält eine Kunststoff-Puppe im Arm, die sie jetzt eindeutig für tot hält. Auf einem immer schmaler werdenden Weg geht sie an den Kirsch- und Pflaumenbäumen vorbei den Hang hinab. Dabei tritt sie auf jahrhundertealte bemooste, überwucherte Steinstufen, um sie her alte Bäume mit dicken Stämmen, die vielleicht schon seit byzantinischer Zeit hier stehen. Der Weg wird immer noch schmaler. Sie hat sich verlaufen. Ein gespenstisches Rauschen. Angst. Und von irgendwoher die zarte Kinderstimme der Schwester: “Suat, Süße, wo bist Du?”

Da heulte ein Motor auf, und zwischen den Vorhangspalt hindurch spähte Suat hinaus. Was für ein grauer Himmel. Das Bett ihrer Schwester war leer, darüber lag die mit Spitze verzierte Bettdecke, die sie aus Istanbul mitgebracht hatten, so als wäre das Bett die ganze Nacht nicht berührt worden. Die Tür des elfenbeinfarbenen Kleiderschranks stand etwas offen; der Saum ihres beigefarbenen Kleides hing heraus. Ein bunt gesprenkelter Paravent, ein roter Sessel, eine Chaiselongue. Das Ticken der Wanduhr war zu hören. Die Zeiger standen auf Zehn.

Schließlich schlug sie die Bettdecke zurück und stand auf. Sie nahm ihren Morgenmantel vom Fußteil des Bettes und ging, während sie ihn überzog, zum Fenster hinüber. Dann schob sie den Vorhang ganz zur Seite und öffnete das Fenster. Der kühle Wind, der ihr ins Gesicht fuhr, ließ sie zurückschrecken. Von der Baustelle vorne an der Straße hörte man nun ein Sägen. Die Luft roch nach Regen, Kohl und frischgebackenem Brot, gemischt mit Briketts. Gegenüber in der Bäckerei mit der blauen Markise, auf der der Schriftzug „Motz-Brot“ prangte, huschten schwarze Schatten geschäftig hin und her. Kurz darauf ging die Ladentür bimmelnd auf und eine Frau mit Schürze trat heraus. Sie hatte einen Eimer und einen großen Besen dabei und begann vor dem Eingang zu kehren.

Während Suat all dies beobachtete, fiel ihr plötzlich etwas auf: Bis gestern noch hatte sich, beim Blick aus dem Fenster alles bewegt, war alles irgendwie an ihr vorübergezogen als säße sie nach der tagelangen Reise immer noch im Zug. Jetzt aber war dieses Rasen zu Ende, und die Straße, die Dinge, alles, was sie nun sah, ging wieder seinen normalen Gang. Und endlich war auch diese Erschöpfung vorbei, die sie tagelang niedergedrückt hatte.

Sie musste sich erleichtern, sich waschen. Danach der Morgenkaffee. Wie hieß doch gleich die Pensionswirtin? Frau Sax. Und ihre Tochter hieß Rose. Rose, die Sekretärin. Wo war eigentlich Hamiyet?

Sie schloss das Fenster, wandte sich um und sagte laut: „Ach ja, sie hatte ja heute gleich morgens einen Termin im Konservatorium!“ Die Schwester hatte ein Talent für das Klavier, aber sie selbst war dafür nicht ausdauernd genug… Nein, deswegen wollte sie sich nicht grämen. Die Musik fordert ernsthaftes Bemühen, Talent, Disziplin und Hingabe. Das war ja der Grund gewesen, warum sie sich im Konservatorium abgemeldet und im Fach Deutsche Literaturgeschichte eingeschrieben hatte. Voller Inbrunst sagte sie: „Studentin Hatice Saadet Suat Derviş“. Noch dazu Studentin an der ehrwürdigen Universität. Da fiel ihr der junge Mann wieder ein, dem sie vor drei Tagen am Bahnhof begegnet war, das war ein ernsthafter Student. Sogar einer, den der Staat entsandt hatte. Wie war sein Name? Sabahattin. Sabahattin Ali. Reşat Fuat war doch auch seinerzeit von offizieller Seite zum Studieren geschickt worden, nicht wahr? Aber er hatte sein Studium schon vor längerer Zeit abgeschlossen, sinnierte sie weiter. Irgendjemand hatte ihr erzählt, dass er nach seinem Chemiestudium hier in Berlin, nach Russland auf die Moskauer Universität gegangen war. Der rote Reşat! Sie erinnerte sich, wie sie ihm das erste Mal vor drei Jahren in einem Zug nach Wien begegnete, als er mit einer größeren Gruppe unterwegs war. Sie hatten sich einander im Speisewagen vorgestellt und sogar ein wenig geplaudert. Aber die Gruppe, die ihn begleitete, war so groß und so laut, dass sie sich kaum hatten verständigen können. Diese Gruppe kam von einer internationalen Tagung zurück. Sie, ihre Schwester und ein paar Kommilitonen vom Konservatorium waren zur Wiener Staatsoper gereist, um sich eine Operette anzusehen. Stimmt, fiel es ihr wieder ein, damals war ich auch noch am Konservatorium. Wie mich der Unterricht dort gelangweilt hat. Aber dieses Wien, die Zugfahrt, und dann die Begegnung mit Nâzım Hikmet, der gerade aus Istanbul kam, oder war es doch Russland gewesen? Ob sich Reşat Fuat und Nâzım wirklich kannten damals? Wer hatte ihr noch gleich später erzählt, dass Reşat Mustafa Kemals Cousin war. Konnte das Nâzım gewesen sein? Aber nein, sie erinnerte sich nicht daran. Damals war sie mit ihren Gedanken wohl ganz woanders gewesen. Mit seiner Ernsthaftigkeit, seiner stillen Art und dem dennoch so herzlichen Blick hatte dieser Mann zwar ihre Aufmerksamkeit erregt, aber später hatte sie ihn wieder aus dem Gedächtnis verloren.

Als ihr Blick am Kleiderschrank mit der halb geöffneten Tür hängenblieb, vergaß sie all das wieder. Sie ging hin, klappte die Tür ganz auf und zog von unten ihre Tasche heraus. Dann ließ sie sich auf der Chaiselongue nieder.

Behutsam legte sie ein paar Hefte, zwei französische Romane und ein Holzkistchen mit Tintenfass auf den flauschigen Teppich. Eine Weile sah sie sich diese Dinge liebevoll an, dann zog sie die Zeitung aus dem Seitenfach der Tasche und streckte sich auf der Chaiselongue aus. Sie blätterte die Zeitung auf ihrem Schoß durch und hatte plötzlich die Mittelseite mit ihrem Foto vor sich. Der Text unter diesem Foto begann mit den Worten: „Die auch in Deutschland bekannte Autorin dieser wunderschönen Geschichte, welche die B.Z. am Mittag in den vergangenen Tagen abdruckte…“. Die zweite Meldung bezog sich auf Hüseyin Rahmi. Weil einem Leser der Ausgang seiner in der Zeitung erschienenen Fortsetzungsgeschichte nicht gefallen hatte, änderte der Autor, als der Roman als Buch erscheinen sollte, kurzerhand das Ende, und statt den Helden zu töten, ließ er ihn am Leben.

Sie musste kurz auflachen. Friedmann bringt also tatsächlich auch Literaturklatsch- und tratsch. Damit macht er den Leser ganz beiläufig neugierig. Dann las sie noch einmal den ersten Satz unter ihrem Bild: „Die auch in Deutschland bekannte…“. Sie fing an zu träumen: Wirklich, war das möglich? Hier, in Berlin? Zu schreiben, Geld zu verdienen, hier zu leben…? Konnte das funktionieren? Einen Tisch in dieses Zimmer zu stellen, mit dem Schreiben anzufangen, Verlage abzuklappern? Jetzt, nachdem Hamiyet entschlossen war, ihr Studium am Konservatorium fortzusetzen… Warum denn nicht? Außerdem könnte ja auch die Familie herkommen. Ruhi könnte hier zur Schule gehen. Schließlich hatten sie auch früher schon jahrelang hier gelebt, waren nicht nur auf Reisen in Berlin gewesen. Als Touristen waren sie erst ein einziges Mal hergekommen, zusammen mit ihrem Vater. Der Vater mit seiner ungebrochenen Begeisterung für Deutschland hatte seinen Töchtern die Hauptstadt der jungen Weimarer Republik gezeigt. Ohne ihn hätten sie sich in dieser riesigen Stadt bestimmt gefürchtet. Das war im Sommer gewesen, die Stadt war wunderschön, aber auch schrecklich laut. Was hatte sie damals nur alles entdeckt, von welchen Autoren Bücher gelesen? Von Thomas Mann, von der Königin des Horrors Mary Shelley in deutscher Übersetzung, Texte eines jungen Philosophen namens Walter Benjamin über sein Leben in dieser Stadt. Das war eine Zeit, die ihr die Literatur und das Schreiben nahegebracht hatte. Damals war sie in Istanbul noch ein unbedarfter Neuling als Schriftstellerin gewesen, deren erstes Werk gerade erst als Fortsetzungsroman gedruckt worden war. In ihrem Kopf spielten sich die schrecklichsten, verrücktesten Spukgeschichten ab, und alles, was sie da im Geiste sah, tauchte in dem, was sie schrieb, auf. Und sie wusste, dass das, was da als Spiegel ihrer selbst auftauchte, die atemberaubende Magie eines Autors und seines Glanzes ausmachte.

Nun stand ihr das fein gezeichnete, schöne Gesicht ihres Vaters mit der Brille vor Augen und sie seufzte liebevoll, aber auch bedauernd. Eigentlich hatte sie damals gar nicht richtig mitbekommen, was er alles durchmachte. So viel, dass ihr Vater wohl auch ein wenig aus dem Grund hierhergekommen war, seine Enttäuschung zu überwinden. Wer weiß, vielleicht wollte er seinen Töchtern aus diesem Grund eine andere Welt zeigen, ihnen zeigen, dass man auch anders leben konnte. Die Republik war ausgerufen worden, aber für ihren Vater, der doch auch unter den Jungtürken gewesen war, hatte man keine Verwendung. Der Sohn eines Paschas Dr. Ismail Derviş war schlichtweg übergangen worden. Hatte man ihn vergessen, oder war man der Auffassung, ein Gynäkologe sei als Staatsmann ungeeignet? Eigentlich hatte ihn seine Tochter Suat stets für einen hellsichtigen Menschen gehalten. Bereits in den allerersten Tagen der Republik, hatte er seine Tochter beiseite genommen und ihr geraten: „Suat, du solltest das lateinische Alphabet gut pflegen, du wirst es bald benutzen müssen, wenn du schreibst.“ Und ihr Vater war es auch gewesen, der sie nach ihren ersten kurzen Erzählungen anspornte, einen Roman zu schreiben, der las, was sie verfasste und ihr sagte, was er darüber dachte.

Plötzlich hörte sie etwas, sie ließ die Zeitung auf die Chaiselongue sinken. Jemand klopfte an die Tür. Beim Aufstehen knöpfte sie den Morgenmantel zu und schlüpfte in die Pantoffeln. Erneut klopfte es heftig an die Tür; Suat hörte eine Frau murren.

Vor der Tür standen, mit gravitätischen Mienen, ganz so als wären sie auf Kontrollgang, die Pensionswirtin Frau Sax und das blasse Zimmermädchen. Am Boden stand ein Eimer Wasser mit Putzlappen.

Frau Sax deutete auf den Eimer und das Zimmermädchen und sagte: „Hier gleich putzen!“ Dann wollte sie wissen, ob Suat einen Kaffee wünschte. Sie sprach im Berliner Dialekt. Irgendwie hörte sich das so an, als hätte sich die Frau darüber beschwert, dass Suat zu lange geschlafen habe. Der Dialekt war äußerst ausgeprägt, und Suat musste sich sehr anstrengen, um etwas zu verstehen, weil die Worte im Mund dieser Frau zu Variationen von Brummlauten wurden, so dass nur zu raten war, was sie sagte. Die Hauswirtin und ihre Helferin zogen sich zurück, als von der Treppe her das Klappern von Absätzen und auffahrende und wieder leiser werdende Stimmen zu hören waren, die nach einem Streitgespräch klangen. Das war die Russin mit ihrer Tochter, die sich im obersten Stockwerk eingemietet hatte. In den vergangenen drei Tagen war Suat ihnen mehrfach, mal in der Küche, mal auf dem Gang begegnet, mehr als ein unauffälliges Grüßen war dabei nicht zustande gekommen. Die Mutter sagte „Bonjour“. Die schmale Tochter mit dem feinen Gesichtchen und den wimpernlosen Augen senkte nur scheu den Blick. In dem Moment war von unten Hamiyets Stimme zu vernehmen.

Sie war recht ausgelassen heute. Wie edel, wie unnahbar sie wirkte mit ihrem dunklen Haar, der schlanken, hochgewachsenen Gestalt und dem gelben Strohhut.

Während Suat vor dem Schrank einen dunklen Rock und eine weiße Bluse anzog, setzte sich Hamiyet auf die Chaiselongue.

Hamiyet begann zu erzählen: „Wie gut, dass ich in Istanbul den ganzen Sommer am Klavier verbracht habe“. Die Lehrerin hatte sie nämlich für ein Lied von Brahms gelobt. Hamiyet berichtete, sie wolle von nun an Gesangsunterricht nehmen, bei einer neuen Lehrerin, die früher Opernsängerin gewesen sei, allerdings noch recht jung, deren Stimme aber wegen einer Erkrankung gelitten habe, und sie deswegen angefangen habe, am Konservatorium zu unterrichten. Dann deutete sie nacheinander auf die umgeschlagene Zeitung auf der Chaiselongue und das Kästchen mit dem Tintenfass am Boden. „Süße, du hast doch nicht etwa vor, den lieben langen Tag hier herumzusitzen! Du solltest zur Uni gehen. Das hindert dich doch nicht am Romanschreiben. Ach, mir geht es so gut. Heute dachte ich mir, wenn es doch nur möglich wäre, für immer hier zu leben!“

„Ja, aber dafür muss man Geld verdienen. Wir können ja nicht immer Geld von Zuhause fordern. Andererseits…“

Suat beendete den Satz nicht. Vorsichtig sah sie zu Hamiyet hinüber. Ach nein, sie wollte jetzt nicht von einem geeigneten Heiratskandidaten anfangen, und ihre Schwester an ihr Alleinsein erinnern, das machte sie immer so traurig. Aber waren sie nicht eben deswegen hergekommen? Hatten sie nicht gehofft, dass Hamiyet hier einen passenden Ehemann finden würde, auch wenn es nicht explizit ausgesprochen worden war und immer nur vom Konservatorium die Rede war.

Suat warf ihrer Schwester einen prüfenden Blick zu, weil sie wissen wollte, ob darin ein Anflug von Traurigkeit zu finden sei, doch Hamiyet wirkte eher versonnen. Jedoch auch diese Versonnenheit streifte sie schnell wieder ab und fragte aufgeregt: „Weißt du, was gerade geschehen ist? Ich habe am Markt eine alte Bekannte getroffen. Vor zehn Jahren habe ich doch bei einer Telefongesellschaft gearbeitet. Da war so eine ganz hübsche, sehr nette Kollegin. Leyla heißt sie… Von irgendjemand hatte ich gehört, dass sie geheiratet hat und wieder geschieden ist, dass sie daraufhin nach Paris gegangen ist und an der Sorbonne ein Studium anfing. Ja, und gerade dieser Leyla bin ich eben zufällig begegnet. Stell dir das mal vor, mitten in Berlin stehen wir uns plötzlich gegenüber. Ich habe sie in der Menge erst gar nicht gesehen. Erst als sie sich mit einer anderen Frau auf Türkisch unterhalten hat, habe ich sie an der Stimme erkannt.“

Hamiyet kramte in ihrer Handtasche. Endlich fand sie, wonach sie gesucht hatte und zückte einen eleganten, goldverzierten Briefumschlag. „Weißt du, was das ist? Eine Einladung! Eine Einladung zur Eröffnung eines Modehauses, das Leyla und eine andere Istanbulerin miteinander in Berlin, noch dazu in einer ziemlich feinen Straße gründen. Ich war ganz baff. Aber ich habe mich auch sehr gefreut. Ach, die kleine süße Leyla. Denk nur, du gehst von Istanbul nach Paris, entdeckst dort, zusammen mit einer anderen Frau aus Istanbul die Mode für dich, dann kommst du nach Berlin und triffst zufällig eine alte Freundin. Wir gehen doch zur Eröffnung, nicht wahr, Suat?“

In diesem Moment klopfte es an der Tür und ohne eine Antwort abzuwarten, sprang Hamiyet auf: „Das ist das Zimmermädchen!“ Suat betrachtete den goldverzierten Umschlag mit der Aufschrift „Madame Saadi“, den sie in die Hand gedrückt bekommen hatte. Sie legte den Umschlag auf die Kommode und sagte: „Na gut, und ich werde jetzt auch eine fleißige Studentin und gehe zur Uni, versprochen!“

Aus dem Türkischen von Angelika Gillitz-Acar und Angelika Hoch-Hettmann